300 Patienten pro Woche:
Die Bankrott-erklärung ist offiziell
Dass die Kassenmedizin ausgehöhlt wird, ist für niemanden zu übersehen. Dass das von der Österreichischen Gesundheitskasse offensichtlich gewollt ist, mittlerweile auch nicht.
Halb leere Wartezimmer sind in Kassenordinationen eine absolute Seltenheit, die allermeisten sind überfüllt.
14.07.2025 um 12:01von
Köksal Baltaci
Es war eine beiläufige, vermutlich unbewusste Bemerkung, die vielsagend ist und die Geisteshaltung der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) endgültig offenlegt. Vorgebracht von deren Obmann, Andreas Huss, bei einer Pressekonferenz zum Thema Privatversicherungen und Finanzierung des öffentlichen Gesundheitssystems vergangene Woche. Die meisten Wahlärzte seien nicht relevant für die Versorgung der Bevölkerung. Denn sie würden hauptberuflich in Spitälern arbeiten und nebenher ein paar Stunden in der Woche eine Ordination betreiben. 300 Patienten pro Jahr seien das Minimum, um von einer Versorgungsrelevanz zu sprechen, darauf habe er sich zuletzt auch mit der Ärztekammer geeignet. Dann fällt der entscheidende Satz: 300 Patienten pro Jahr seien eigentlich immer noch sehr wenig, denn so viele behandle ein gewöhnlicher Kassenarzt locker pro Woche, so Huss sichtlich stolz.
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300 Patienten pro Woche also. Ist das eine Zahl, auf die sich die ÖGK und Andreas Huss wirklich etwas einbilden sollten? Mal sehen: Die Mindestöffnungszeit einer Kassenordination beträgt 20 Wochenstunden. Das ist auch der Grund, warum die meisten Ordinationen 20 Stunden pro Woche geöffnet haben, was aber einer tatsächlichen Arbeitszeit von 40 bis 60 Stunden entspricht, denn irgendwann müssen ja auch administrative Tätigkeiten durchgeführt und Befunde ausgewertet werden. 20 Stunden sind 1200 Minuten. Geteilt durch 300 kommen vier Minuten heraus. Ein Kassenarzt, der 300 Patienten pro Woche behandelt, hat somit für einen Patienten im Schnitt vier Minuten Zeit.
Drei-Minuten-Medizin
Diese Zahl entspricht durchaus der Realität, weswegen im Kassensystem auch von der Drei-Minuten-Medizin die Rede ist. Eine Kassenordination rentiert sich für die Betreiber nämlich vor allem dann, wenn sie so viele Patienten wie möglich so schnell wie möglich durchschleusen und dabei so viele technische Untersuchungen wie möglich durchführen. Denn Arzt-Patienten-Gespräche werden (mit dem Argument seitens der Sozialversicherung, dass sie schwer zu kontrollieren seien und Raum für Missbrauch geben würden) so schlecht honoriert, dass sie nach Möglichkeit sehr kurz gehalten werden (müssen). So sieht der Honorarkatalog für ein halbstündiges ärztliches Gespräch weniger als 20 Euro vor – brutto.
Dieser Umstand ist das Hauptmotiv dafür, dass die Zahl der Wahlärzte seit Jahren steigt, während die der Kassenärzte sinkt – immer mehr Ärzte erteilen der Drei-Minuten-Medizin eine Absage. Und weil auch immer mehr Patienten auf Zuwendung und Aufmerksamkeit nicht verzichten wollen, gibt es einen Markt für Wahlärzte.
Eine Entwicklung, die von der ÖGK offiziell mit Sorge beobachtet wird und der sie – wiederum offiziell – einen Riegel vorschieben will. Was ihr aber kaum jemand glaubt, denn wenn es so wäre, würde sie mehr Kassenverträge zur Verfügung stellen und diese auch attraktiver machen, indem sie den Honorarkatalog reformiert und beispielsweise Gespräche besser entlohnt – eine langjährige Forderung von Gesundheitsexperten. Dann müssten Kassenärzte nicht im Akkord Patienten behandeln, um ihre Ordination rentabel zu halten. Tatsächlich aber will die ÖGK genau das – nämlich Kassenärzte, die so viele Patienten wie möglich rasch abfertigen. Das ist die ÖGK-Definition von versorgungswirksam. Wer damit nicht einverstanden ist, kann ja auf Wahlärzte oder Spitalsambulanzen ausweichen – auf Bereiche also, die die ÖGK nur teilweise finanziert.
Ein Standpunkt, der einer Bankrotterklärung des Kassensystems gleichkommt und mit Andreas Huss’ Offenbarung bei der Pressekonferenz quasi offiziell ist. Mit dem Fazit, dass das öffentliche Gesundheitssystem künftig nur noch eine Basisversorgung anbieten kann. Wer mehr will, weicht auf den Privatsektor aus – was nicht wenige Menschen auch machen: Mittlerweile haben 39 Prozent der Bevölkerung eine private Zusatzversicherung.
Konzept „Ask me 3“
Übrigens: In Ländern, in denen das schon länger der Fall ist, in den USA etwa, werden die Patienten dazu aufgerufen, sich bei Arztbesuchen auf drei Fragen zu konzentrieren und zumindest auf ihre Beantwortung zu pochen. Was genau fehlt mir? Was kann ich dagegen tun? Warum soll ich das tun? „Ask me 3“ heißt dieses Konzept. Und wird wohl auch in Österreich zunehmend zur Anwendung kommen. Denn den Arzt mit Kassenvertrag, der sich genügend Zeit für seine Patienten nimmt und all ihre Fragen geduldig beantwortet, gibt es nicht mehr. Er wird auch nicht zurückkommen.